Hexenblut - Der erste Intersex-Comic: Als Baby kastriert - Bonita - 03.06.2014
http://www.queer.de/detail.php?article_id=21682 schrieb:01.06.2014
"Hexenblut"
Der erste Intersex-Comic: Als Baby kastriert
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Ein wilder Comic wie ein Punksong: "Hexenblut" ist im Luftschacht Verlag erschienen
In der autobiografischen Graphic Novel "Hexenblut" erzählt Suskas Lötzerich die Geschichte eines Jungen, aus dem die Ärzte nach der Geburt ein Mädchen machten.
Von Angelo Algieri
Eins ist jetzt schon sicher: Autor, Illustrator und Maler Suskas Lötzerich hat mit seinen erst 35 Jahren viel erlebt. Das belegt er in seinem autobiografischen Comic "Hexenblut", die die ersten 30 Jahre seines Lebens erzählen bzw. illustrieren.
Lötzerich ist intersexuell geboren. Doch schon kurz nach der Geburt am 25. September 1979 wird seine "Fehlbildung" kastriert. Ohne dass seine Mutter informiert wurde. Als man ihr das Baby gibt, blutet es an der Schnittstelle. "Hexenblut", gibt man der Mutter zur Antwort – "das ist sowas wie die erste Monatsblutung", da das Kind die von der Mutter aufgesogenen Hormone abstoße, informiert die Krankenschwester. Eine unverantwortliche Entscheidung mit tragischen Folgen!
Den Drang, ein Junge zu sein, hat Lötzerich schon früh: Bereits als Dreijähriger behauptet er, ein Penis würde ja noch wachsen. Und die langen Haare? Na klar: Er ist doch ein Wikinger … Noch vor der Einschulung weigert er sich, die Prinzessin zu spielen. Er verhält sich für ein "Mädchen" sehr jungenhaft: Er hört gerne Spielkassetten: "He-Man and the Masters of the Universe", wünscht sich ein BMX-Rad, rauft gerne mit Jungs.
Die Pubertät soll seinem Wunsch, ein Junge zu sein, näher bringen. Allerdings werden seine Probleme noch größer: Er bekommt seine Tage, ihm wachsen kleine Brüste. Er geht zu einigen Psychologen und Psychoanalytikern. Sie können ihm nicht viel helfen – solange er in der Pubertät ist. Die rechtliche Lage in den 1990ern ist rigide. Er solle sich weitmöglichst wie ein Junge anziehen, in der Schule aufs Männerklo gehen und jedem erzählen, ein Junge zu sein. Dem pubertierenden Lötzerich ist das zu viel. Er versucht es nochmal als Mädchen zur Konfirmation – doch das scheitert grandios.
Nach Sex mit einem Neonazi probiert es Suskas mit einer Frau
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Ausschnitt aus der Graphic Novel: "Wann krieg ich die Hormone?"
Sex darf natürlich nicht fehlen, und auch das hat eine gewisse Brisanz. Punker Lötzerich ist auf eine Party eingeladen. Der Gastgeber unterhält Freundschaften auch zu Neo-Nazis – und so hat Lötzerich zum ersten Mal Sex mit einem attraktiven Nazi. So heftig, dass das Bett – wie in einer guten Komödie – in zwei Teile kracht. Das erinnert ein wenig an den Film "Oi! Warning"…
Suskas hat keinen Orgasmus bekommen und will es nun mit einer Frau versuchen. Doch auch mit "lesbischen" Sex fühlt er sich nicht wohl. Er will unbedingt die Hormontherapie beginnen. Doch auch hier ist das Recht streng. Er muss sich im Alltag für ein Jahr bewähren – und von Dritten als Mann "anerkannt" werden. Doch in der Öffentlichkeit erkennt man an Stimme und Brüsten, dass er kein Mann ist. Frustrierend!
Der Transgender-Film "Boys don't cry" gibt ihm nochmals Kraft: Weg vom Punker, hin zum braven, konservativ-gekleideten Boy. Es scheint zu klappen. 2002 bekommt er die Hormontherapie, bald werden ihm die Brüste abgenommen. Doch zufrieden ist er immer noch nicht. Immer wenn es zum Sex kommt – unabhängig ob mit Mann, Frau oder Transgender – blockiert er. Besser: Er ist innerlich blockiert. Er fühlt sich nicht komplett. Wird ihm ein Penoid Erlösung bringen?
Mit kurzen Schlaglichtern hat Lötzerich seine eigene Lebensgeschichte spannend aufgezeichnet. Dabei konzentriert und verdichtet er Szenen oder Situationen auf manchmal nur einer Seite. Eine Aneinanderkettung von präzise austarierten Episoden seines Lebens – dramaturgisch blendend umgesetzt. Mit einfachen Zeichnungen und großzügigen Schwarz-weiß-Bildern erzählt Lötzerich seiner Identitätsentwicklung meilenweit entfernt von Betroffenheit und Kitsch.
Das verstärkt sich durch die Erzählperspektive. Denn wir erfahren kaum Gedankengänge oder innere Emotionen. Gedankenblasen sind kaum vorhanden. Nüchternheit heißt die Devise – und dennoch packt einen die Story ungemein!
Lötzerich zeigt sich nicht nur von seiner Schokoladenseite
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Suskas Lötzerich, geboren 1979, entschied sich im Jahr 2001, als Mann zu leben
Bild: privat
Auch inhaltlich: Zum einen zeigt Lötzerich, welche Allmacht die Ärzte früher hatten und bei Intersexuellen mit einem "ganz kleinen Schnitt" dem Säugling ein Geschlecht aufgezwungen haben. Ohne die Eltern auch nur zu fragen. Zum anderen schildert diese Autobiografie, welche rechtlichen Hürden für eine Geschlechtsanpassung bestanden und noch immer bestehen. Und stellt somit einen klugen Diskussionsbeitrag dar, ob Jugendliche oder gar Kinder ein Recht haben sollten, ihr Geschlecht zu ändern.
Der Comic "Hexenblut" macht nicht nur Mut, sondern zeigt eindrucksvoll, wie verstrickt das Leben sein kann – aber auch wie widersprüchlich Lötzerich selbst ist. Er zeigt sich nicht nur von seiner Schokoladenseite. War er immer fair zu anderen? Stieß er die anderen, die ihn liebten, nur deshalb ab, weil er keinen Schwanz hatte? Als sein bester Freund stirbt, war es richtig, nicht zu weinen?
Wie bei Autobiografien üblich, sind die Einblicke, je näher wir der Gegenwart kommen, sporadischer, weil vielleicht Lebensabschnitte nicht abgeschlossen sind. Hier verhält sich Lötzerich ähnlich wie andere Transgender-Biografen, etwa Valeska Réon oder Kate Bornstein. Bedauerlich, dass der Autor seine Comic-Karriere nicht eingewoben hat – eine comic-reflexive, zusätzliche Ebene hätte dieser schon berauschenden und temporeichen Story das letzte I-Tüpfelchen gegeben.
Doch wer nun glaubt, dass Suskas' Leben nach seinem 30. Geburtstag "normal" verlaufen ist, der irrt. Auf seiner Homepage beschreibt er, dass er "wahnsinnig" geworden sei. Durch beruflichen Stress, Alkohol und Kiffen glaubte er, ein außerirdischer Parasit sitze in seinem Kopf, den er mit einem Schraubenschlüssel töten wollte – er stach durch seine Ohren. Die Folgen: Taubheit, Gleichgewichtsstörungen und Gesichtslähmung. Suskas musste Gebärdensprache lernen und bekam ein Hirnstam-Iimplantat. Er könne nun etwas hören, aber sehr fragmentiert, schreibt er weiter auf seiner Homepage.
Diese Lebensgeschichte ist wahrlich filmreif.
Infos zum Buch
Suskas Lötzerich: Hexenblut. Comic. 144 Seiten. Format: 14,8 x 21 cm. Softcover. Luftschacht Verlag. Wien 2014. 15,50 €. ISBN 978-3-902844-40-8
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» Homepage von Suskas Lötzerich
RE: Hexenblut - Der erste Intersex-Comic: Als Baby kastriert - TSI - 24.06.2014
Toller Tipp danke! Hm, viele von uns hätten sich ja eine Kastration bei der Geburt gewünscht... Dass die Ärzte aber auch nie was richtig machen können !!
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