Luxemburg: tageblatt.lu - Viele Transkinder sind unsichtbar - Bonita - 02.11.2014
http://www.tageblatt.lu/nachrichten/land_a_leit/story/12099218 schrieb:Viele Transkinder sind unsichtbar
Im falschen Körper gefangen. Viele Transkinder verstellen sich geschickt, um nicht aufzufallen und Diskriminierungen zu entgehen. Vier Betroffene erzählen.
[Foto] Bildunterschrift: Transexuelle versuchen im Alltag nicht durch ihr Anderssein aufzufallen, um Diskriminierung zu vermeiden. (Bild: AP/Archiv)
Die Lebensgeschichten von Transpersonen sind sehr unterschiedlich. Einige kommen mit dem binären Geschlechtssystem zurecht, sie wollen einem stereotypen Bild von Mann oder Frau entsprechen. Für viele andere stellt das binäre System jedoch ein Problem und eine große Belastung dar.
Im Rahmen des Zyklus „Histoires de vie“ luden das „Centre pour l’égalité de traitement“ und die Gemeinden Differdingen und Sanem am Dienstag ins „Aalt Stadhaus“, um über Geschlechternormen zu informieren.
Über Geschlechtergrenzen hinweg
Ihnen gemeinsam ist aber, dass das Bedürfnis, die normierten Geschlechtergrenzen zu überschreiten, schon häufig in frühester Kindheit (im Alter von zwei bis vier Jahren) auftritt.
Das Problem ist, dass viele Transkinder schlichtweg unsichtbar sind, weil sie sich geschickt verstellen, um nicht aufzufallen und somit Diskriminierungen aus dem Weg gehen. Ein „Coming out“ führt oft zu zahlreichen Problemen im Alltag. Die Anzahl von Trans-Kindern in Luxemburg wird auf 550 geschätzt, zuverlässige Zahlen gibt es aber nicht.
Diskriminierung und Gewalt
Diskriminierung und Gewalt gegenüber Trans-Personen haben ihre Grundlage einerseits in der kulturell verankerten Heteronormativität, andererseits sind sie eine Folge der Pathologisierung, die häufig dadurch entsteht, dass Transpersonen sich von Ärzten und Psychiatern ihr Befinden attestieren lassen müssen, um ihren Namen oder Personenstand anschließend per Gerichtsbeschluss ändern zu dürfen.
Bei Transkindern führe Akzeptanz dazu, dass Symptome wie Depressionen oder Suizidgedanken zurückgehen, betonte Dr. Erik Schneider von "Intersex & Transgender Luxembourg" am Dienstag. Normalisierung – der Versuch, die Kinder in die bei der Geburt zugewiesene Geschlechtsrolle hineinzuzwängen – bewirke genau das Gegenteil.
Es sei wichtig, dass Kinder Explorationsraum bekommen, um die Grenzen ihrer geschlechtlichen Identität ausloten zu können. Selbstbestimmung und geschlechtliche Selbstverortung müssten respektiert werden.
Die Geschichten von vier Transsexuellen
Marc
Auch Marc wurde als weibliche Person geboren. Mit 5, 6 Jahren bemerkte Marc, dass er mit seinem zugewiesenen Geschlecht nicht zufrieden war. Als er mit 10 Jahren in ein Kinderheim kam, konnte das Personal dort nichts mit Marcs Problemen anfangen und versuchte ihn zu normalisieren, indem sie ihn in Mädchensachen steckten. Als Teenager ging Marc zu mehreren Psychiatern, die ihm einreden wollten, er sei wohl eine burschikose Frau und vermutlich lesbisch. Diese ständige Verdrängung seines Zustands führte bei Marc zu Depressionen, Panikattacken und Suizidgedanken. Mit 23 Jahren holte er sich Hilfe bei ITGL. Die Hormonbehandlungen und Operationen haben ihm zwar geholfen, doch heute findet Marc insbesondere das binäre Geschlechtssystem als belastend. Dieses System erschwere es ihm, so zu sein, wie er sich fühle. Er fühle sich weder weiblich noch ganz männlich.
Magali
Magali ist die Mutter eines 12-jährigen Transkindes. Bei seiner Geburt wurde dem Kind die Geschlechtszugehörigkeit „weiblich“ zugeschrieben. Doch schon sehr früh fragte sich das Kind, wieso es kein Junge sei. Die Fragen wurden immer häufiger. Als das Kind daran zu verzweifeln drohte, suchte die Mutter Hilfe bei der „Intersex & Transgender Luxembourg asbl.“, die die Familie zu einem Psychiater und Endokrinologen nach Münster weitervermittelte. Heute besucht Magalis Kind das Lyzeum als Junge. Um die Regelblutung und das Wachstum der Brust zu unterbinden, nimmt es Hormone und sogenannte „Pubertätsblocker“. Es benutzt auch einen männlichen Vornamen, nur auf dem Personalausweis ist noch der weibliche Geburtsname vermerkt. Außer dem Schuldirektor und -Psychologen weiß niemand in der Schule über seine Vorgeschichte Bescheid. Magali unterstützt ihr Kind voll und ganz.
Sara
Sara wusste lange Zeit nicht, was Transpersonen sind. Aufgewachsen in einer erzkatholischen Großfamilie, wählte sie den ihr vorbestimmten heteronormativen Weg. Sie heiratete und wurde Vater von zwei Kindern. Mit 40 Jahren merkte sie, dass sie gefallen daran fand, sich weiblich zu kleiden und zu schminken. Als die Alkoholsucht und Suizidgedanken sie nicht mehr losließen, holte sie sich mit 48 Jahren Hilfe. Die anschließende Transition verlief größtenteils öffentlich. Heute hat Sara schätzungsweise 100.000 Euro in psychiatrische Behandlungen, Hormontherapien und geschlechtsangleichende Operationen investiert, vieles wurde von der Gesundheitskasse bezahlt. Heute fühlt Sara sich „saugut“, schlimm seien nur noch die Stimme und der hartnäckige Bartwuchs. Die 20.000 Euro für die schmerzhafte und langwierige Entfernung der Gesichtsbehaarung bezahlt die Krankenkasse nicht.
Rachel
Rachel ist die Tochter von Sara. Mit 12 Jahren bemerkte sie erstmals, dass ihr Vater „anders“ ist. Sie hatte keine Probleme mit der Transformation und ist sehr offen mit dem Thema umgegangen, auch wenn es bei Außenstehenden manchmal für Verwirrung sorgt. „Jeder soll leben, wie er möchte“, sagt Rachel. Für sie ist Sara immer noch ihr Vater, auch wenn er jetzt anders aussieht.
Schwierig war es für sie nur zu sehen, dass Sara unzufrieden mit sich selbst war, solange die Transformation nicht komplett war. Sorgen machte sie sich auch um die Mutter, die mit der Transformation weniger gut zurechtgekommen sei. Auch ihr Bruder habe sich mit Saras Entscheidung schwergetan, sagt Rachel. Dr. Erik Schneider von ITGL erklärt, Beobachtungen hätten gezeigt, dass je mehr ein Mensch mit traditionellen Geschlechternormen verbunden sei, desto schwieriger falle ihm die Akzeptanz von Transpersonen.
Definitionen
Transpersonen
Personen, bei denen das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht von der geschlechtlichen Selbstwahrnehmung oder der geschlechtlichen Identität abweicht.
Definitionsvielfalt
Die gebrauchten Termini und Definitionen sind nicht neutral und können sehr verletzend sein. Die Definitionsmacht sollte nicht den Psychiatern, sondern den Menschen gehören, um die es geht. Ansonsten wird es immer wieder zu einer Pathologisierung gesunder Menschen kommen.
Leseempfehlung
Erik Schneider/Christel Baltes-Löhr (Hg.): „Normierte Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz“. 2014 transcript-Verlag.
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