Beitrag #9
28.07.2012, 09:08
(27.07.2012, 20:22)Ulli schrieb: Mögen Dir das so manche abnehmen - ich nicht! ... DAS ist schlicht und einfach verabscheuungswürdig!
Ich glaub, was Sie jetzt erleben, hab ich in meiner Schul- und leider Internatszeit erlebt. Es gab da einen Kollegen, ein Jahr unter mir, ebenso Aussenseiter und gemobbt wie ich. (Ich will mich gar nicht nur als das unschuldige Opfer darstellen, unser Aussenseiterverhalten musste bei Schulbuben einfach Ablehnung auslösen.) Jedenfalls sind wir uns auf einem der Schilager näher gekommen, jeder von uns wäre auf einem Nudelbrett auch nicht schlechter gefahren als auf Schiern, frühe Pubertätszeit, und es hat sich eine Freundschaft mit sehr viel Auf und Ab entwickelt, die bis zum Schulabschluss (Matura) gehalten hat. Letztlich ist sie an meiner Indolenz zerbrochen, was einer der hässlichen Flecken in meinem Leben ist, denn er hat mich wirklich gern gehabt. Wir haben einander lange aus den Augen verloren.
Worauf ich hinaus will: Wir sind manchmal stundenlang am Abend durch die Landschaft gegangen und haben philosophiert, wie halt junge Menschen philosophieren. Das Denken dieses Menschen war mir absolut unbegreiflich. Ich habe mich damals sehr fest an ein dialektisches Denken mit Prämissen, Schlüssen, Kausalketten geklammert. Ich glaub, so etwas resultiert aus dem Bedürfnis nach Sicherheit, wenn man spürt, dass in der eigenen Seele das Chaos droht. Er hat eher Bilder weitergesponnen als Gedanken, sehr von Emotionen gesteuert. Es war ihm viel wichtiger, aus welchen Worten ein Satz gebaut ist und wie er klingt, als zu welchem Inhalt sich die Wörter zusammengesetzt haben. Es gab heftige Diskussionen zwischen uns.
Heute verstehe ich erst, wie offen, ehrlich und mutig es in Wirklichkeit von ihm war, von seiner Assoziations- und Bilderwelt zu erzählen, ohne seine Bilder von vorneherein nach den Erwartungen und Zwängen des "richtigen" Denkens zurechtzuschleifen. Von "Verarschen" kann hier wirklich keine Rede sein.
Das mag vielleicht aus dem Mund einer Mathematikerin seltsam klingen. Aber selbst wenn wir in der Mathematik so rigoros denken würden, ohne uns vorher eine verschwommene Welt aus Bildern und Geschichtchen zu machen, kämen wir nicht weit. Einen abstrakten Differentialoperator in einem unendlich dimensionalen Raum muss ich auch (in Gedanken) mit meinen Händen anfassen und vor mir drehen, wirklich, ich mach die Handbewegungen! Erst wenn ich schon ziemlich genau weiss, wie ein Beweis funktionieren wird, kann und muss ich die Bilder streng nachprüfen, Argument für Argument, Gedankenstückchen für Gedankenstückchen präzis aufs Papier setzen und auf Lücken testen. Aber ohne die Phase der Bilder vorher kommt nur trivialer Kitt zustande.
Ich finde, das Forum ist eine Welt der Sprache. Sprache ist unendlich vielseitig. Wie schön, wenn sie aufleben darf. Eine Rabatte im Barockstil können wir in unserer Vielseitigkeit ohnehin nicht schaffen. Warum darf es nicht eine Sommerwiese sein, auf der alles durcheinander blüht!
Ich lese Neiras Beiträge gern. Bitte lassen Sie mir die Freude.