Diagnose: F-64.0
RE: Diagnose: F-64.0
Beitrag #10
Soviel ich weiß, ist das die ICD-10-Definition und damit auch die Diagnosekriterien:

Zitat:F64.0 Transsexualismus
Der Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden. Dieser geht meist mit Unbehagen oder dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen Geschlecht einher. Es besteht der Wunsch nach chirurgischer und hormoneller Behandlung, um den eigenen Körper dem bevorzugten Geschlecht soweit wie möglich anzugleichen.

Also erstens "Der Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden"

Meiner Meinung nach leidet schon dieser erste Satz der Definition unter dem schweren Mangel, dass ein "anderes" Geschlecht postuliert wird, ohne hier zwischen den verschiedenen Geschlechtsbegriffen (genetisch / hormonell / sozial usw) zu unterscheiden. In der Definition wird angenommen, dass es nur "Mann" und "Frau" gibt, das soziale Geschlecht bei "Nicht-F64.0" immer dem genetischen entspricht und es weiters nur 2 biologische, streng unterscheidbare Geschlechter gibt (Intersexualität ist dann wohl Behinderung, oder wie?).

Preisfrage: Ist ein intersexueller Mensch (sagen wir mal der Einfachheit halber ein Mensch, der von Geburt an weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale besitzt) transsexuell, wenn er "Mann" sein will?

Preisfrage 2: Ist ein Mensch, der sich nicht als männlich oder weiblich identifiziert und auch nicht den Wunsch danach hat, sondern den "Wunsch, als Transgender-Person zu leben und anerkannt zu werden" hat, transsexuell? Beispielsweise mit einem veränderten Körper ohne verändertes soziales Geschlecht?

Der zweite Satz ("Dieser geht meist mit Unbehagen oder dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen Geschlecht einher.") führt den Begriff "anatomisches Geschlecht" ein. Auch hier wieder Preisfrage: Was ist das anatomische Geschlecht? Bekommt man durch HRT und Op im besten Fall ein anderes "anatomisches Geschlecht" und ist dann plötzlich nicht mehr F64.0? Oder bleibt das eigene "anatomische Geschlecht" zB auch männlich, wenn man Vagina und Brüste statt Penis hat? Auch das wäre wohl etwas zweifelhaft. Weiters wieder: Wie ist das anatomische Geschlecht von Hermaphroditen?

Satz drei ("Es besteht der Wunsch nach chirurgischer und hormoneller Behandlung, um den eigenen Körper dem bevorzugten Geschlecht soweit wie möglich anzugleichen.") ist bekanntermaßen sowieso zu einer (meiner bescheidenen Meinung nach) menschenverachtenden Farce geworden, da er chirurgische UND hormonelle Behandlung fordert. Hat man alle "Symptome" ohne den Wunsch nach Op, ist man nach F64.0 nicht transsexuell. Langsam langweilig, aber auch hier wieder: es wird nur Mann/Frau im "reinen" Sinn als Geschlechtswahl "angeboten", d.h. dass man sich zB mit einem ursprünglich "rein" männlichen Körper und dann halt zusätzlich HRT wohl fühlen und dabei als Weder-Mann-Noch-Frau identifizieren kann, liegt nicht in der Vorstellungskraft der Autor*innen.

Mein Fazit: Definition und Kriterien leiden unter falschem Kategorisierungswahn (evtl krankhaft? sollte man dafür eine ICD-Diagnose einführen?), faktisch falschen Annahmen (dass es nur 2 Geschlechter gibt, die streng trennbar sind), ungenauer Begrifflichkeit ("Geschlecht" als ein Wort ohne weitere Differenzierung), und Vernachlässigung von Menschen, die HRT, aber keine Op wollen. FOLGLICH ist auch die Diagnose dieser "Störung der Geschlechtsidentität" mehr oder weniger vom Gutdünken der beurteilenden Person abhängig. Die gleichen Tatsachen (zB Identifikation als drittes Geschlecht) können einmal als F64.0 interpretiert werden und einmal kann dies mangels formaler Erfüllung der Kriterien abgelehnt werden.

Was man draus macht, wenn man diese "Diagnose" aus praktischen Gründen haben will, bleibt wohl jedem/jeder selber überlassen. Meiner Meinung nach sollte man sich von derartigem Schwachsinn (auch wenn er vermutlich gute Absichten dahinterstecken und man ja auch in Forschung und Praxis Bestrebungen sieht, die Situation zu verbessern) aber nicht in der Identitätsfindung beeinflussen lassen. Und da beginnt der wirklich schwierige Teil: Wer bin ich? Was will ich? Wie will ich leben? Diese Fragen wird leider und irgendwie auch glücklicherweise kein klinische-psychologischer Test und keine psychiatrische "Begutachtung" von oben herab beantworten können…
Das Leben ist eine Komödie und wir sind die Clowns.
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Diagnose: F-64.0 - von Mike-Tanja - 18.10.2011, 18:28
RE: Diagnose: F-64.0 - von MichaelaTZF - 18.10.2011, 19:34
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