Beitrag #55
19.03.2018, 22:51
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 23.03.2018, 19:31 von Mike-Tanja.
Bearbeitungsgrund: Tippfehler korrigiert
)
Ich wiederhole hier einfach das, was ich gerade an die Mailing-Liste von TransX geschrieben habe:
Zitat:Ein Urteil (= eine ein Verfahren abschließende Entscheidung in der Sache) heißt beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) (und beim Verwaltungsgerichtshof [VwGH] und bei den Verwaltungsgerichten erster Instanz) "Erkenntnis".
Das, was da passiert ist, ist ein ganz üblicher Vorgang.
Beim VfGH ist Beschwerde gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts OÖ geführt worden. Letzteres hatte über die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde (Bürgermeister von Steyr) zu erkennen, mit der ein Antrag auf Eintragung von "Inter" in die Geschlechtsrubrik der Personenstandsregister abgewiesen worden ist.
Dies nennt man (seit 2014) ein E-Verfahren des VfGH (Gattungszeichen "E" für "Erkenntnisbeschwerde").
In der Beschwerde an den VfGH wird Dr. Graupner wohl so argumentiert haben: a) Das angewendete Gesetz (PStG 2013) ist verfassungswidrig, weil diskriminierend für Intersex-Menschen, die so schon im frühesten Kindesalter - mit diversen Folgen - zu einer Einordnung ins binäre Geschlechtssystem gezwungen werden. b) Die Entscheidung ist Willkür, weil unter grober Verkennung der Rechtslage ergangen.
b) Ist hier nur ein Hilfsargument, eine Rückfallebene (für den Gerichtshof). Bei a) spielt die Musik. Der VfGH kann aber nicht einfach eine Entscheidung eines Gerichts aufheben, die auf einem geltenden und korrekt angewendeten Gesetz beruht. Er muss zuerst dieses Gesetz beseitigen. Also ist das E-Verfahren von Amts wegen unterbrochen und per Beschluss (= verfahrensrechtliche oder formelle Entscheidung, hier auch "Prüfungsbeschluss" genannt) ein Gesetzesprüfungsverfahren ("G"-Verfahren) eröffnet worden. Im Prüfungsbeschluss steckt der VfGH die Grenzen ab, warum das geprüfte Gesetz seiner Ansicht nach verfassungswidrig sein könnte. Meistens geht er dabei von den Argumenten der beschwerdeführenden Partei des E-Verfahrens aus, er ist aber nicht daran gebunden (er kann sogar ein G-Verfahren eröffnen, wenn gar nicht in diese Richtung argumentiert worden ist).
Im G-Verfahren ist in Österreich kurioserweise nicht der Gesetzgeber (Nationalrat und Bundesrat) sondern die Bundesregierung berufen, für die Verfassungsmäßigkeit von (Bundes-) Gesetzen zu argumentieren (bisher war das Sache des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt). Ansonsten können sich die Parteien des E-Verfahrens (Ausgangsverfahren), also die/der Beschwerdeführer/in und das Verwaltungsgericht, schriftlich äußern, eine mündliche Verhandlung wird nicht immer anberaumt.
Wenn der VfGH das geprüfte Gesetz aufhebt, hebt er gleichzeitig oder kurz darauf auch die angefochtene Gerichtsentscheidung im E-Verfahren auf (wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes). Hebt er das geprüfte Gesetz nicht auf, weil er seinen eigenen Prüfungsbeschluss verwirft - das passiert eher selten -, dann kann er trotzdem die angefochtene Entscheidung im E-Verfahren aufheben --> siehe Argumentationslinie b). Das passiert etwa dann, wenn sich im Gerichtshof zwar keine Mehrheit für die Aufhebung des Gesetzes aber sehr wohl eine für die Aufhebung der Einzelentscheidung findet. Warum und was da genau abläuft, kann man oft nur raten. Wie die Standpunkte innerhalb des VfGH verteilt sind, ist ein gut gehütetes Geheimnis, denn die Abstimmungsergebnisse und Beratungsprotokolle sind top secret.
- Sag' Du mir, in welche Schublade ich passe! -