Intersexualität & Non-Binary: Verfahren zu Anerkennungen eines dritten Geschlechts
RE: Intersexualität: Gerichtsverfahren zur Anerkennungen eines dritten Geschlechts
Beitrag #82
und das sind die Folgen für die Praxis (in Österreich): aus "Die Presse":
Interessant ist es ja, dass dies auch für Menschen gelten soll, die sich weder als Mann noch Frau fühlen ("non-binary u.a.")

Urteil: Drittes Geschlecht ab sofort
Neben männlich und weiblich seien weitere Geschlechtsbezeichnungen zulässig, sagt der Verfassungsgerichtshof. Was bedeutet diese Neuerung in der Praxis?

Wien. Wer sich weder männlich noch weiblich fühlt, konnte dies bisher nicht in amtlichen Urkunden zum Ausdruck bringen. Die Behörden verweigerten jegliche andere Bezeichnung. Nach einer am Freitag bekannt gewordenen Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) wird es nun aber möglich, seine Geschlechtsidentität auch anders eintragen zu lassen. Doch welche Bezeichnungen sind künftig erlaubt und welche rechtlichen Folgen hat es, wenn jemand weder männlich noch weiblich ist? Die wichtigsten Antworten zum VfGH-Erkenntnis.

1 Was hat der VfGH genau entschieden und ab wann gelten die neuen Regeln?
Der VfGH hatte ursprünglich eine Prüfung des Personenstandsgesetzes eingeleitet, an dessen Ende die Aufhebung von Paragrafen stehen kann. Nun entschieden sich die Richter aber, keine Norm aufzuheben. Der VfGH erklärte vielmehr, dass schon nach der bestehenden Rechtslage verschiedenste Geschlechtsbezeichnungen möglich seien, wenn man das Gesetz richtig interpretiert.

So schreibe das Gesetz zwar vor, dass ein Geschlecht einzutragen sei. Aber nirgendwo stehe, dass es nur männlich oder weiblich als Geschlecht gebe. Also seien andere Einträge auch zulässig. Das ergebe sich aus der (in Österreich im Verfassungsrecht) stehenden Europäischen Menschenrechtskonvention und dem darin verankerten Recht auf Privatleben. Die Entscheidung des VfGH gilt mit sofortiger Wirkung, ab sofort müssen die Behörden das Gesetz also so interpretieren, wie es das Höchstgericht vorschreibt.

2 Welche neuen Bezeichnungen für die Geschlechtsidentität werden nun möglich?
Der VfGH beschränkte die möglichen Angaben nicht. Somit werden verschiedenste Bezeichnungen möglich, solang damit zum Ausdruck kommt, dass eine Person sich weder männlich noch weiblich fühlt. Zulässig seien jedenfalls gängige Bezeichnungen wie „divers“, „inter“ oder „offen“, betonte das Gericht. Auch ein Verzicht auf eine Geschlechtsbezeichnung wäre möglich.
Fantasiebezeichnungen, die die Geschlechtsidentität nicht zum Ausdruck bringen, sind nicht gestattet. Im Zweifel muss die Behörde die gewünschte Bezeichnung im Einzelfall überprüfen.
Ein Spezialfall ist der Reisepass: Hier ist es nach EU-Vorgaben nur möglich, das Geschlecht als männlich, weiblich oder als X (weder noch) eintragen zu lassen. Eine andere Geschlechtsbezeichnung ist nicht möglich. Bisher hat Österreich aber auch das X im Pass nicht zugelassen, das muss es jetzt.

3 Was soll eine Person nachweisen, die ein drittes Geschlecht eintragen lassen will?
Beschwerdeführer im Anlassfall war Alex Jürgen (Jahrgang 1976), der auch anhand seiner Geschlechtsmerkmale weder klar männlich noch weiblich zuzuordnen ist. Aber auch wer körperlich klarer als männlich oder weiblich einzustufen ist, darf sich ein anderes Geschlecht eintragen lassen, wenn er sich anders fühlt. So ist schon länger ausjudiziert, dass jemand für einen amtlichen Geschlechtswechsel (also Mann zu Frau oder umgekehrt) keine genitalverändernde Operation vornehmen muss.
Ähnliches gelte künftig auch für Personen, die sich weder männlich noch weiblich fühlen, erklärt Anwalt Helmut Graupner, der die VfGH-Entscheidung für seinen Mandanten erkämpfte. Die Behörde habe Selbsteinschätzungen grundsätzlich zu akzeptieren. Und zwar nicht nur dann, wenn eine Person sich selbst eindeutig weder männlich noch weiblich fühle. Sondern auch dann, wenn eine Person sich noch unsicher sei und ihre Geschlechtsidentität erst entwickeln müsse. Eltern dürften diese Frage für ihre Kinder entscheiden, sagt Graupner zur „Presse“.
Die Behörde darf aber bei einer Änderung des Geschlechts überprüfen, ob eine Person den Geschlechtseintrag ohne guten Grund ändern möchte. Etwa, weil jemand nicht zum Bundesheer will (siehe Punkt 4).

4 Was bedeutet das dritte Geschlecht für Gesetze, die auf ein Geschlecht abstellen?
Zum Bundesheer müssen laut Gesetz nur männliche Staatsbürger. Wer also stattdessen ein drittes Geschlecht wählt, wäre nicht mehr stellungspflichtig. Umgekehrt gilt das noch eine Zeit lang bestehende frühere Pensionsalter (60 statt 65) nur für Frauen. Wer dem dritten Geschlecht angehört, muss wie ein Mann noch bis 65 arbeiten.

5 Was ist das Bemerkenswerte an der jetzigen Entscheidung?
Österreich ist nun das erste Land in Europa, in dem es das amtliche dritte Geschlecht nicht nach einer politischen, sondern nach einer Gerichtsentscheidung gibt. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat zwar bereits im Vorjahr in dieselbe Richtung entschieden, aber der Politik noch eine Übergangsfrist bis Ende 2018 gesetzt. In anderen Ländern (etwa Malta, Australien, Indien) gibt es das dritte Geschlecht schon länger.
Auch bei der Ehe für alle war Österreich zuletzt das erste Land, in der diese nicht politisch, sondern von einem Verfassungsgericht eingeführt wurde. Diesfalls gibt es aber noch eine Übergangsfrist bis 2019.
Bemerkenswert ist auch, dass der VfGH nun für das dritte Geschlecht stimmte, obwohl das Gremium seit dem ursprünglichen Prüfungsbeschluss konservativer wurde. Drei noch von Rot-Schwarz erwählte Richter waren in Pension gegangen und von der türkis-blauen Koalition nachbesetzt worden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2018)
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RE: Intersexualität: Gerichtsverfahren zur Anerkennungen eines dritten Geschlechts - von SingingComet - 29.06.2018, 19:30
(m/w/d) -> "d" schon möglich? - von mike. - 05.04.2019, 21:21

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