Beitrag #22
21.02.2018, 09:53
Was für ein interessanter Thread!
Ich versuche zunächst einmal, zu den Betrachtungen anderer LGBT*IQ Bereiche – und was das alles zu bedeuten haben könnte (oder auch nicht) – etwas beizutragen:
I. Inter* als Sternchenform?
Intersexualität ist leider ein äußerst komplexes – und verdammt heikles – Thema.
Schon ganz am Anfang steht, daß "Intersexualität" ein medizinisches Konzept ist, das nicht unbedingt auch alltagstauglich sein muß. Theoretisch könnte man sich durchaus die radikale Position leisten, zumindest vieles davon abzulehnen. Das wäre so ein bißchen wie radikale Fassungen von Transgenderismus o.ä., die Medikalisierungen, aber auch andere Zumutungen zurückwiesen. In der queeren Praxis hat man leider viel zu selten in diese Richtung gedacht.
Es ist leicht, dem LGBT*Q ein "I" hinzuzufügen, aber es ist wohl nur mit einem Professorengehirn zu erfassen, wie viele Syndrome es gibt, welchen phänomenologischen Ausdruck diese jeweils finden können, in welchen Lebenssituationen Intersexen stecken können, welche Probleme dabei alles auftreten können – und was man dann tun könnte, sollte oder auch besser nicht täte.
Man hat etwa im Intersex Movement der 1990er Jahre sich auf Aktivismus gegen Intersex Genital Mutilation (IGM) konzentriert mit Begründungen wie das sei "stellvertretend" für weitere Anliegen mitgedacht, oder auch das sei für's erste zu priorisieren. Es gab zwar sehr wohl immer wieder entsprechende Anfragen, warum man das eigentlich so handhabte, aber es blieb bei dieser Linie. Ganz so offensichtlich, wie politische Entscheidungen von Außen betrachtet scheinen mögen, sind sie offensichtlich doch nicht.
Zur Dritten Option heutzutage kann ich leider nichts sagen, ich weiß nicht, wie deren Positionen zustandekamen.
Ob Intersexualität die Basis für dritte, vierte, fünfte... Geschlechter bildet, bin ich mir leider nicht so sicher.
Es könnte duchaus sein, daß sich hier hinein lediglich der biologistische Begründungsversuch einer Zwei-Geschlechterordnung in nur leicht modifizierter Form hineinverschleppt hat. Das wäre nun doch sehr enttäuschend.
Kolonialistische Berichte waren oft recht großzügig mit allen möglichen und unmöglichen Bezeichungen von "Hermaphroditen" über "Eunuchen" und "Transvestiten" bis "Sodomiten" und "Homosexuellen". Und allzu offensichtlich mochten sie Leute, über die sie so schrieben, nicht. Das schränkt die Möglichkeiten, das zu wissen, was ich wissen möchte, doch merklich ein.
II. Asexualität und Agender?
Ob Asexuelle für sich eine Notwendigkeit zur Fortpfanzung sehen, oder irgendwelchem sozialen Druck nachgeben (sollten), der auf sie ausgeübt wird?
Sollte eine_n das wirklich interessieren, so gibt es mittlerweile einiges von Asexuellen im Netz zu finden, darüberhinaus auch wissenschaftliche Beschäftigungen mit dem Thema (nachdem das bis in die 1990er Jahre hinein eher wenig beachtet geblieben war).
Und nebenbei, es gibt durchaus auch asexuelle Trans_menschen. Es wäre nicht schlecht, wenn die ihre eigene Stimme finden könnten.
Ich mag eine hoffungslose Romantikerin sein, wenn ich dazu tendiere, anzunehmen, daß Sex sowohl Ausdruck emotionaler Bindungen sein kann, als auch solche verstärken... Aber offensichtlich können auch Asexuelle sogar sehr starke emotionale Bindungen aneinander haben.
Denkbar frustrierend ist leider oft, wenn ein Partner asexuell ist, der andere nicht.
Und gut, um auf den Sex zurückzukommen, natürlich kann man sich auch nur ganz unschuldig miteinander vergnügen...
Für Unkonformitäten aller Art bin ich immer gerne zu haben...
Für die Dialektik von BDSM vermag ich mich nicht so recht zu begeistern, also aus Machtstrukturen auszubrechen, indem man sie so etwas wie in anderen Kontexten und mit anderen Mitteln (leicht -?) verändert abbildet (oder re-enact, re-presentation, oder wie auch immer man das fassen möchte).
Auch hier steckt leider ein ziemliches Konfliktpotential darin, wenn ein Partner auf so etwas wie BDSM steht, der andere nicht.
D'accord. Diskriminierung liegt Geschlecht bestimmt nicht zugrunde. Es dürfte wohl umgekehrt sein: wenn Leute andere unter den Tisch nageln wollen, dann finden sie immer irgendwelche "Gründe" wie Rasse, Geschlecht, Kultur, Religion, sexuelle Orientierung, yada.
Eine müßige, aber äußerst faszinierende Spekulation!
Zunächst denke ich, daß man ideologische Konstrukte nicht beliebig durchsetzen kann.
(Ich mag froh sein, daß ich nicht in queer politics involviert bin. Die würden eine so notorische Bedenkenträgerin wie mich abgrundtief hassen.)
Aber dann ist die Sache, die "realen Gegenheiten und den Bedürfnisse vieler Menschen" sind, selbst wenn sie denn eine biologische Basis haben, gesellschaftlich/kulturell überformt.
Wären geschlechtliche Unterschiede anders gefaßt (wahrscheinlicher denn in Gänze abgeschafft!), so würden sich die Menschen in einem solchen System sicherlich anders verorten, anders empfinden, etc.
Insofern verliert ein solches Gedankenspiel doch viel von seinem anfänglichen Schrecken.
III. Unfälle – oder: Wie dumm können Zufälle überhaupt sein?
Wissenschaftliche Beschäftigungen setzen mit guten Grund ein jahrelanges Studium voraus, und egal ob Biologie oder Queer Studies sind hiervon keine Ausnahme.
(Beide Fächer übrigens auch nicht gerade meine Kernkompetenzen. Aber manches habe ich wenigstens ein bißchen zu lesen gelernt.)
Ich möchte stellvertretend nur auf einen neuen Aufsatz verweisen, von dem ich zugegebenerweise immer noch nichteinmal die Hälfte verstehe. Aber man kann ja auch Aufsätze mehrmals lesen...
Schaefer, Donovan. 2018. “Precopulatory Sexual Cannibalism and Other Accidents: Evolution, Material Trans Theory, and Natural Law.” Gender and Sexuality 19.1: 28-35. doi:10.1080/15240657.2018.1419685
... und ich weiß auch noch nicht, wie ich die Passage über “Material Trans Theory” verkraften werde...
Ein Blick in die Geschichte bzw. in die Ethnologie ist ja selbst bei Sexualmedizinern sehr beliebt, um wenigstens mal einen Moment der Besinnung einzulegen, wo möglicherweise die Grenzen des eigenen Tuns liegen könnten.
Wobei es da sicherlich noch sehr viel mehr kritische Fragen zu stellen gäbe. Etwa könnte das Zusammenspiel von Sex, Gender und Sexualität (als Praxis) wesentlich komplexer sein als wir in unseren schlimmsten Alpträumen erahnen können. Und welche “Schubladen” gibt es in welchen anderen Gesellschaften? (Und sind dies womöglich sogar mehr als nur drei?) Was bedeutet bei denen “Identität” überhaupt? Wie hängt das mit deren Philosophien, Religionen, politische Ideologien etc. zusammen?
Ich könnte dem aber auch noch die Frage hinzufügen, wie konsequent sind solche soziokulturellen Systeme überhaupt? Das hiesige binäre System wirft ja nicht nur Intersexen (soll heißen: einige derer) an der einen Stelle hinaus, um sie an anderer wieder zwangseinzugemeinden (und selbst das oft nur halbherzig). Oder auch umgekehrt... oder beides abwechselnd. (Auch eine Art “Unfall”...)
Wahrscheinlich müßte man das sehr oft durchexerzieren, bis sich das endlich einmal etwas weiter herumgesprochen hätte...
Ich versuche zunächst einmal, zu den Betrachtungen anderer LGBT*IQ Bereiche – und was das alles zu bedeuten haben könnte (oder auch nicht) – etwas beizutragen:
I. Inter* als Sternchenform?
(11.06.2017, 01:33)Falling Snow schrieb: es wird kein drittes geschlecht gefordert, denn das gibt es bereits.
das sind alle intersexuellen menschen.
Intersexualität ist leider ein äußerst komplexes – und verdammt heikles – Thema.
Schon ganz am Anfang steht, daß "Intersexualität" ein medizinisches Konzept ist, das nicht unbedingt auch alltagstauglich sein muß. Theoretisch könnte man sich durchaus die radikale Position leisten, zumindest vieles davon abzulehnen. Das wäre so ein bißchen wie radikale Fassungen von Transgenderismus o.ä., die Medikalisierungen, aber auch andere Zumutungen zurückwiesen. In der queeren Praxis hat man leider viel zu selten in diese Richtung gedacht.
Es ist leicht, dem LGBT*Q ein "I" hinzuzufügen, aber es ist wohl nur mit einem Professorengehirn zu erfassen, wie viele Syndrome es gibt, welchen phänomenologischen Ausdruck diese jeweils finden können, in welchen Lebenssituationen Intersexen stecken können, welche Probleme dabei alles auftreten können – und was man dann tun könnte, sollte oder auch besser nicht täte.
Man hat etwa im Intersex Movement der 1990er Jahre sich auf Aktivismus gegen Intersex Genital Mutilation (IGM) konzentriert mit Begründungen wie das sei "stellvertretend" für weitere Anliegen mitgedacht, oder auch das sei für's erste zu priorisieren. Es gab zwar sehr wohl immer wieder entsprechende Anfragen, warum man das eigentlich so handhabte, aber es blieb bei dieser Linie. Ganz so offensichtlich, wie politische Entscheidungen von Außen betrachtet scheinen mögen, sind sie offensichtlich doch nicht.
Zur Dritten Option heutzutage kann ich leider nichts sagen, ich weiß nicht, wie deren Positionen zustandekamen.
Ob Intersexualität die Basis für dritte, vierte, fünfte... Geschlechter bildet, bin ich mir leider nicht so sicher.
Es könnte duchaus sein, daß sich hier hinein lediglich der biologistische Begründungsversuch einer Zwei-Geschlechterordnung in nur leicht modifizierter Form hineinverschleppt hat. Das wäre nun doch sehr enttäuschend.
Kolonialistische Berichte waren oft recht großzügig mit allen möglichen und unmöglichen Bezeichungen von "Hermaphroditen" über "Eunuchen" und "Transvestiten" bis "Sodomiten" und "Homosexuellen". Und allzu offensichtlich mochten sie Leute, über die sie so schrieben, nicht. Das schränkt die Möglichkeiten, das zu wissen, was ich wissen möchte, doch merklich ein.
II. Asexualität und Agender?
(09.06.2017, 07:22)chipsi schrieb: Wenn man asexuell ist, hat Sex ja keine Bedeutung, abgesehen von der Notwendigkeit der Fortpflanzung.
Ob Asexuelle für sich eine Notwendigkeit zur Fortpfanzung sehen, oder irgendwelchem sozialen Druck nachgeben (sollten), der auf sie ausgeübt wird?
Sollte eine_n das wirklich interessieren, so gibt es mittlerweile einiges von Asexuellen im Netz zu finden, darüberhinaus auch wissenschaftliche Beschäftigungen mit dem Thema (nachdem das bis in die 1990er Jahre hinein eher wenig beachtet geblieben war).
Und nebenbei, es gibt durchaus auch asexuelle Trans_menschen. Es wäre nicht schlecht, wenn die ihre eigene Stimme finden könnten.
Ich mag eine hoffungslose Romantikerin sein, wenn ich dazu tendiere, anzunehmen, daß Sex sowohl Ausdruck emotionaler Bindungen sein kann, als auch solche verstärken... Aber offensichtlich können auch Asexuelle sogar sehr starke emotionale Bindungen aneinander haben.
Denkbar frustrierend ist leider oft, wenn ein Partner asexuell ist, der andere nicht.
Und gut, um auf den Sex zurückzukommen, natürlich kann man sich auch nur ganz unschuldig miteinander vergnügen...
Zitat:dabei sind die Rollenbilder ja dennoch nicht zu 100% vorgegeben, bzw. können auch komplett umgedreht werden (siehe BDSM).
Für Unkonformitäten aller Art bin ich immer gerne zu haben...
Für die Dialektik von BDSM vermag ich mich nicht so recht zu begeistern, also aus Machtstrukturen auszubrechen, indem man sie so etwas wie in anderen Kontexten und mit anderen Mitteln (leicht -?) verändert abbildet (oder re-enact, re-presentation, oder wie auch immer man das fassen möchte).
Auch hier steckt leider ein ziemliches Konfliktpotential darin, wenn ein Partner auf so etwas wie BDSM steht, der andere nicht.
Zitat:Dahinter würde ich auch kein böses System sehen, so wie es bei der Rassentrennung mal war, da die Unterschiedung M und W bei uns ja grundsätzlich NICHT auf Diskriminierung basiert.
D'accord. Diskriminierung liegt Geschlecht bestimmt nicht zugrunde. Es dürfte wohl umgekehrt sein: wenn Leute andere unter den Tisch nageln wollen, dann finden sie immer irgendwelche "Gründe" wie Rasse, Geschlecht, Kultur, Religion, sexuelle Orientierung, yada.
Zitat:Eine weitreichende Abschaffung dieser Unterscheidungen im Alltag würde auch wieder nur ein künstliches Konstrukt schaffen, das an den realen Gegenheiten und den Bedürfnissen vieler Menschen vorbeigeht, glaub ich zumindest.
Eine müßige, aber äußerst faszinierende Spekulation!
Zunächst denke ich, daß man ideologische Konstrukte nicht beliebig durchsetzen kann.
(Ich mag froh sein, daß ich nicht in queer politics involviert bin. Die würden eine so notorische Bedenkenträgerin wie mich abgrundtief hassen.)
Aber dann ist die Sache, die "realen Gegenheiten und den Bedürfnisse vieler Menschen" sind, selbst wenn sie denn eine biologische Basis haben, gesellschaftlich/kulturell überformt.
Wären geschlechtliche Unterschiede anders gefaßt (wahrscheinlicher denn in Gänze abgeschafft!), so würden sich die Menschen in einem solchen System sicherlich anders verorten, anders empfinden, etc.
Insofern verliert ein solches Gedankenspiel doch viel von seinem anfänglichen Schrecken.
III. Unfälle – oder: Wie dumm können Zufälle überhaupt sein?
(11.06.2017, 01:00)Chiara D. schrieb: Biologisch wird es immer nur Mann Frau geben!
Wissenschaftliche Beschäftigungen setzen mit guten Grund ein jahrelanges Studium voraus, und egal ob Biologie oder Queer Studies sind hiervon keine Ausnahme.
(Beide Fächer übrigens auch nicht gerade meine Kernkompetenzen. Aber manches habe ich wenigstens ein bißchen zu lesen gelernt.)
Ich möchte stellvertretend nur auf einen neuen Aufsatz verweisen, von dem ich zugegebenerweise immer noch nichteinmal die Hälfte verstehe. Aber man kann ja auch Aufsätze mehrmals lesen...
Schaefer, Donovan. 2018. “Precopulatory Sexual Cannibalism and Other Accidents: Evolution, Material Trans Theory, and Natural Law.” Gender and Sexuality 19.1: 28-35. doi:10.1080/15240657.2018.1419685
... und ich weiß auch noch nicht, wie ich die Passage über “Material Trans Theory” verkraften werde...
(11.06.2017, 01:00)Chiara D. schrieb: es wird immer nur 2 Geschlechter geben!
Ein Blick in die Geschichte bzw. in die Ethnologie ist ja selbst bei Sexualmedizinern sehr beliebt, um wenigstens mal einen Moment der Besinnung einzulegen, wo möglicherweise die Grenzen des eigenen Tuns liegen könnten.
Wobei es da sicherlich noch sehr viel mehr kritische Fragen zu stellen gäbe. Etwa könnte das Zusammenspiel von Sex, Gender und Sexualität (als Praxis) wesentlich komplexer sein als wir in unseren schlimmsten Alpträumen erahnen können. Und welche “Schubladen” gibt es in welchen anderen Gesellschaften? (Und sind dies womöglich sogar mehr als nur drei?) Was bedeutet bei denen “Identität” überhaupt? Wie hängt das mit deren Philosophien, Religionen, politische Ideologien etc. zusammen?
Ich könnte dem aber auch noch die Frage hinzufügen, wie konsequent sind solche soziokulturellen Systeme überhaupt? Das hiesige binäre System wirft ja nicht nur Intersexen (soll heißen: einige derer) an der einen Stelle hinaus, um sie an anderer wieder zwangseinzugemeinden (und selbst das oft nur halbherzig). Oder auch umgekehrt... oder beides abwechselnd. (Auch eine Art “Unfall”...)
(13.02.2018, 00:51)Falling Snow schrieb: inzwischen durfte ich allerdings herausfinden, das sich der biologische aspekt ebenso wunderbar in seine einzelteile zerlegen und gegen die wand fahren läßt.
Wahrscheinlich müßte man das sehr oft durchexerzieren, bis sich das endlich einmal etwas weiter herumgesprochen hätte...