Beitrag #139
13.11.2018, 15:21
I.
Nun ja, wir sogar vor fast 1½ Jahren schon wesentlich weiter. Aber da geht es nicht um Epigenetik. Damals wurde das folgende Papier als revolutionär gehandelt:
Boyle EA, Li YI, Pritchard JK. 2017. An expanded view of complex traits: from polygenic to omnigenic. Cell 169 (June 15, 2017): 1177-1186. http://dx.doi.org/10.1016/j.cell.2017.05.038
Wie weit man mit dem Konzept von "Genen" inzwischen ist, wird im Abschnitt “Evolutionary Change of Complex Traits” deutlich. Aber auch wie viel Arbeit uns noch erwartete, was das Verständnis menschlicher Evolution anginge:
II.
Das Problem in dem Thread damals war, daß kulturelles Verhalten sehr wohl dazu führen kann, daß bestimmte Features unter Selektionsdruck geraten.
Ein eindeutiges, wenn auch wirklich schlimmes Beispiel wäre, daß Leute, die erst in den letzten Jahrhunderten der sog. Zivilisation ausgesetzt wurden, sehr anfällig für sog. Zivilisationskrankheiten sind. (Abgesehen, daß sie noch durch andere Faktoren gestreßt werden, was ihnen dann gleich doppelt und dreifach zusetzt.) Dagegen, in den Weltgegenden, in denen solche Lebensstile schon seit Jahrtausenden praktiziert wurden, sind die Menschen, die das gesundheitlich nicht vertragen konnten, ganz uncharmanterweise so gut wie ausgestorben.
Bei manchen nicht-autosomal bedingten, also vererbbaren Formen von IS ist eine bemerkenswerte Häufung in bestimmten Regionen festzustellen. Das könnte in manchen Fällen tatsächlich mit traditionellerweise positiven kulturellen Einstellungen zu korrelieren sein.
Was nach NB, T* oder auch Homo- oder Pansexualitäten aussehen könnte, ist oft nicht so einfach zu fassen. Nichtsdestoweniger kann auch das in manchen Kulturen so häufig sein, daß man sich verwundert die Augen reibt. Auch hier würde ich zumindest für die Vergangenheit durchaus einen positiven Selektionsdruck in Erwägung ziehen.
Leider bin ich ausgerechnet für das alte Vorderasien und den Mittelmeerraum skeptisch. Ich würde mich da dem seligen Jeremy Black anschließen, daß man dazu tendiert, sich das Leben damals als letztlich doch ganz angenehm vorzustellen, wo man sich schon so viel damit beschäftigt hat, trotz aller Kritikwürdigkeiten, die man nicht übergehen kann... Aber am Ende bleibt vielleicht doch weniger Annehmlichkeit und mehr Kritik
III.
Aber was das anginge:
Es ist schwer vorstellbar, daß etwas determiniert und willensfrei zugleich sein könnte (wahrscheinlich läge aber dann eine Fehleinschätzung vor, oder man wollte mit dem Oxymoron irgendetwas ausdrücken).
Das ist ein sehr beliebtes Mißverständnis von sozialer Konstruktion. Es ist mitnichten beliebig, geschweige willkürlich.
Diese Sichtweise wäre mir bis heute nicht unsympathisch. Leider bin ich zu skeptisch veranlagt, rechne damit, daß eine ganze Reihe von Faktoren nicht berücksichtigt wurden. Daher möchte ich den Fall an die nächst-niedrigere Instanz zurückverweisen
IV.
Es gibt eine Unzahl von Lebensbedingungen. Es kommt eben nicht nur auf die Anfangsbedingungen, sondern auch auf die Randbedingungen an.
Leider sind Erklärungsmodelle Geschmackssache.
Das scheint eine bessere Zusammenfassung als die stark verkürzten Statements, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
Mein einziges Problem ist, ich konnte mit der Idee eines "Leidensdruckes" nie etwas anfangen
Ich denke, wir sind nicht gleich. Eigentlich in keinerlei Hinsicht.
Zuvorderst wollte ich das nicht. Meiner Gesundheit hat es nicht geschadet, und so arm war/bin ich nun doch nicht
Probleme hatte ich nur mit den deutschen Flickschustern, für die war ich (nicht nur mein Körper) ein überflüssiges Übel. Meine richtige Familie könnte ich mir nicht besser wünschen.
Nun ja, wir sogar vor fast 1½ Jahren schon wesentlich weiter. Aber da geht es nicht um Epigenetik. Damals wurde das folgende Papier als revolutionär gehandelt:
Boyle EA, Li YI, Pritchard JK. 2017. An expanded view of complex traits: from polygenic to omnigenic. Cell 169 (June 15, 2017): 1177-1186. http://dx.doi.org/10.1016/j.cell.2017.05.038
ABSTRACT schrieb:A central goal of genetics is to understand the links between genetic variation and disease. Intuitively, one might expect disease-causing variants to cluster into key pathways that drive disease etiology. But for complex traits, association signals tend to be spread across most of the genome—including near many genes without an obvious connection to disease. We propose that gene regulatory networks are sufficiently interconnected such that all genes expressed in disease-relevant cells are liable to affect the functions of core disease-related genes and that most heritability can be explained by effects on genes outside core pathways. We refer to this hypothesis as an ‘‘omnigenic’’ model.
Wie weit man mit dem Konzept von "Genen" inzwischen ist, wird im Abschnitt “Evolutionary Change of Complex Traits” deutlich. Aber auch wie viel Arbeit uns noch erwartete, was das Verständnis menschlicher Evolution anginge:
Zitat:The observation that many traits are affected by huge numbers of variants also has important implications for studies of evolutionary change. Within the evolutionary community, there has been great interest in identifying particular genetic variants that are responsible for adaptive changes, both within and between species (Vitti et al., 2013). While this work has produced a number of interesting examples, we argue that these are not likely to be representative of most evolutionary change. Instead, most adaptive changes may proceed by polygenic adaptation, i.e., species adapt by small allele frequency shifts of many causal variants across the genome (Pritchard et al., 2010). For example, if 10[sup]5[/sup] variants affect height by 0.15 mm each, then even a small shift in average allele frequencies could generate a large shift in average height; e.g., a 0.5% genome-wide increase in the frequency of ‘‘tall’’ alleles would generate a 15 cm shift in average height. There is now a growing collection of examples of recent polygenic adaptation in humans, especially for morphometric traits including height, BMI, and infant birth size (Turchin et al., 2012; Field et al., 2016).
We anticipate that many of the more dramatic phenotypic differences seen between species are also driven by an accumulation of tiny effects and that larger-effect differences are likely to be exceptions to the rule. For example, there are [about] 40 million single-nucleotide [SNP] differences between humans and chimpanzees. If 1% of these affect chromatin function or other aspects of regulation, then there could easily be a half-million differences between the two species with small but nonzero effects on phenotypes (these need not all be adaptive), and these would likely dominate the contributions of a handful of large-effect loci.
II.
Das Problem in dem Thread damals war, daß kulturelles Verhalten sehr wohl dazu führen kann, daß bestimmte Features unter Selektionsdruck geraten.
Ein eindeutiges, wenn auch wirklich schlimmes Beispiel wäre, daß Leute, die erst in den letzten Jahrhunderten der sog. Zivilisation ausgesetzt wurden, sehr anfällig für sog. Zivilisationskrankheiten sind. (Abgesehen, daß sie noch durch andere Faktoren gestreßt werden, was ihnen dann gleich doppelt und dreifach zusetzt.) Dagegen, in den Weltgegenden, in denen solche Lebensstile schon seit Jahrtausenden praktiziert wurden, sind die Menschen, die das gesundheitlich nicht vertragen konnten, ganz uncharmanterweise so gut wie ausgestorben.
Bei manchen nicht-autosomal bedingten, also vererbbaren Formen von IS ist eine bemerkenswerte Häufung in bestimmten Regionen festzustellen. Das könnte in manchen Fällen tatsächlich mit traditionellerweise positiven kulturellen Einstellungen zu korrelieren sein.
Was nach NB, T* oder auch Homo- oder Pansexualitäten aussehen könnte, ist oft nicht so einfach zu fassen. Nichtsdestoweniger kann auch das in manchen Kulturen so häufig sein, daß man sich verwundert die Augen reibt. Auch hier würde ich zumindest für die Vergangenheit durchaus einen positiven Selektionsdruck in Erwägung ziehen.
Leider bin ich ausgerechnet für das alte Vorderasien und den Mittelmeerraum skeptisch. Ich würde mich da dem seligen Jeremy Black anschließen, daß man dazu tendiert, sich das Leben damals als letztlich doch ganz angenehm vorzustellen, wo man sich schon so viel damit beschäftigt hat, trotz aller Kritikwürdigkeiten, die man nicht übergehen kann... Aber am Ende bleibt vielleicht doch weniger Annehmlichkeit und mehr Kritik
III.
Aber was das anginge:
(05.11.2016, 01:50)SingingComet schrieb: Was beim Gedankengang, TS sei ein soziales Konstrukt immer mitschwingt, ist die Frage der Willensfreiheit. Denn wir nehmen an, alles was sozial determiniert ist, geht auf eine bewusste Willensentscheidung des Menschen zurück. Und angeblich bewusst gemachte Entscheidungen sind kritisierbar. Und der Mensch hat Angst vor Kritik, könnte es doch sein Weltbild und sich selbst in Frage stellen.
Wenn ich mich jedoch auf eine körperliche, also physiologische Determinante berufe, komme ich nicht in die Verlegenheit, meine Gefühle zu rechtfertigen bzw zu verteidigen.
Es ist schwer vorstellbar, daß etwas determiniert und willensfrei zugleich sein könnte (wahrscheinlich läge aber dann eine Fehleinschätzung vor, oder man wollte mit dem Oxymoron irgendetwas ausdrücken).
Das ist ein sehr beliebtes Mißverständnis von sozialer Konstruktion. Es ist mitnichten beliebig, geschweige willkürlich.
(05.11.2016, 01:50)SingingComet schrieb: Aber wenn man es genau bedenkt, wäre die Annahme, TS sei die „Ausgeburt“ einer ehemals bewusst getätigten Entscheidung ja ein großartiges Indiz dafür, dass der Mensch so etwas wie Willensfreiheit besitzt.
So gesehen könnte man TS-Menschen auch als Ausdruck der Willensfreiheit des Menschen sehen. Das Paradoxe daran ist aber, dass wir als Betroffene es als etwas in die Wiege gelegtes sehen.
Diese Sichtweise wäre mir bis heute nicht unsympathisch. Leider bin ich zu skeptisch veranlagt, rechne damit, daß eine ganze Reihe von Faktoren nicht berücksichtigt wurden. Daher möchte ich den Fall an die nächst-niedrigere Instanz zurückverweisen
IV.
(12.11.2016, 14:08)Eva_Tg schrieb: Allerdings fehlen diesen Ideen immer Erklärungen für die unterschiedlichen Lebensverläufe.
Es gibt eine Unzahl von Lebensbedingungen. Es kommt eben nicht nur auf die Anfangsbedingungen, sondern auch auf die Randbedingungen an.
Leider sind Erklärungsmodelle Geschmackssache.
(12.11.2016, 14:08)Eva_Tg schrieb: Der Begriff der transsexuellen Entwicklung erfasst Lebensverläufe, innerhalb derer das Geschlechtsidentitätserleben einer Person nicht bzw. nicht vollständig mit ihren geschlechtsspezifischen, körperlichen Merkmalen übereinstimmt.
Transsexuell wird diese Entwicklung, wenn die Person das Bedürfnis hat, gemäß ihres Geschlechtsidentitätserlebens wahrgenommen zu werden und dieses Ziel mit Mitteln der somatischen Medizin (z.B. Behandlung mit Sexualhormonen, chirurgische Maßnahmen) verfolgt.
Der Begriff der transsexuellen Entwicklung ist nicht auf Entwicklungen von Mann zu Frau oder Frau zu Mann beschränkt, sondern explizit auf Lebensentwürfe anwendbar, die nicht im Einklang mit der Binarität von Geschlecht organisiert sind. Die krankheitswertige Grundlage transsexueller Entwicklungen bildet das persistierende Erleben von Geschlechtsdysphorie. Mit diesem Begriff werden Zustände beschrieben, innerhalb derer Personen auf Grund der Unvereinbarkeit ihres Geschlechtsidentitätserlebens mit den geschlechtsspezifischen Merkmalen ihres Körpers einen nachhaltigen Leidensdruck entwickeln.
Das scheint eine bessere Zusammenfassung als die stark verkürzten Statements, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
Mein einziges Problem ist, ich konnte mit der Idee eines "Leidensdruckes" nie etwas anfangen
(12.11.2016, 14:08)Eva_Tg schrieb: Wenn wir alle angeblich gleich sind, dann erkläre mir mal warum die einen Probleme mit ihrem Körper haben und die anderen nicht?`Passiert das alles zufällig oder willkürlich? Ist es einfach nur ein stärker ausgeprägter Wunsch nach dauerhafter Angleichung?
Ich denke, wir sind nicht gleich. Eigentlich in keinerlei Hinsicht.
(12.11.2016, 14:08)Eva_Tg schrieb: Oder haben wir alle das gleiche Trans-Ding und leider haben ein paar dummerweise eine Geschlechtsdysphorie entwickelt. Vielleicht wurden wir als Kinder nicht genug geliebt oder nicht genug in den Arm genommen? Vielleicht hat mir meine Mutter nicht oft genug gesagt, was für ein hübscher Junge ich doch bin, vielleicht mag deswegen meine Körper nicht?
Warum kann man diese verdammte Dysphorie nicht einfach weg therapieren und als Tivi durchs Leben gehen? Wäre gesünder und kostengünstiger als eine HRT.
Zuvorderst wollte ich das nicht. Meiner Gesundheit hat es nicht geschadet, und so arm war/bin ich nun doch nicht
Probleme hatte ich nur mit den deutschen Flickschustern, für die war ich (nicht nur mein Körper) ein überflüssiges Übel. Meine richtige Familie könnte ich mir nicht besser wünschen.