Beitrag #27
03.04.2021, 07:29
Ich kann mich auch sehr gut an die Zeit ohne Internet erinnern.
Nicht, weil es das nicht gegeben hätte.
Das nicht.
Es war zu Anfang, ohne Flatrate, unerschwinglich teuer für uns.
Manche surften zum Telefon-Nachttarif, um ein paar Cent (oder waren es noch Pfennige?) zu sparen.
Die Verbindungen über Modem waren langsam, wenn sie nicht einfach zusammenbrachen.
Und schließlich durfte ich das Netz nur für die Firma nutzen.
Ich kam gar nicht auf die Idee, nach Informationen über trans zu suchen.
Und wie war es vorher?
Wie in „Danish Girl“.
„Man“ schleicht sich in eine Bibliothek und sucht nach perversen Geschlechtsentwicklungen.
Allein zuhaus im Brockhaus danach zu suchen hätte schon scheele Blicke der „Familie“ auf mich gezogen.
Mit 20 war ich beim Bund und versuchte, den Vaterlandsverteidiger zu spielen.
Richtig männlich zu sein.
Was für eine verschwendete Zeit.
In jeder Hinsicht.
Anders als du wusste ich spätestens mit der Pubertät, dass mein Körper sich in die falsche Richtung entwickelt.
Und doch hatte ich mich ganz bewusst dazu entschieden, mein Leben als Mann zu leben.
Was für ein Quatsch.
„Noch mal 20 sein“ ist nicht einfach ein „What-If-Szenario“ einer fiktionalen Welt.
Dieses Gedankenspiel lässt sich mir die Frage stellen, wer ich heute wäre.
Mit Pubertätsblockern und viel passigerem Aussehen.
Hätte ich eine tolerante Schule besucht und wäre weniger gemobbt und verprügelt worden?
Wäre ich in die Schule mit weniger Angst gegangen?
Hätte ich in der Schule, in der Lehre, an der Uni mehr Freundinnen gehabt?
Mehr Freunde?
Und wenn ja, was für welche?
So gute wie die, die auch jetzt, nach der Transition, noch beste Freunde sind?
Oder wäre es viel schlimmer geworden, weil ich in einem intoleranten Umfeld aufgewachsen bin, in dem jede Abweichung von der gesellschaftlich vorgegebenen Norm als Schande für die Familie angesehen worden ist?
In dem „man“ von der Frau, von der „man“ geboren worden ist, verstoßen wird?
In meinem jetzigen Leben war ich 25, als das geschah, und es hat dennoch elend weh getan – wie hätte ich es verkraftet, mit 15 von zu Hause rausgeschmissen zu werden?
Könnte ich dann auch so wie jetzt, komfortabel und satt, darüber sinnieren, wie es wäre, noch mal 20 zu sein, oder läge ich unter einer Brücke oder würde ich mir meine Unterkunft erprostituieren müssen oder hätte ich mich schon längst suizidiert?
Wenn ich schon als Kind misshandelt und sexuell traumatisiert worden bin, hätte ich die Angst überlebt, dies als schwache Frau wieder erleben zu müssen?
Könnte ich dann wie heute meinen Mann auf Augenhöhe lieben oder würde ich ihn vor allem als meinen Beschützer sehen?
Münden nicht all diese Fragen in die eine:
Wäre ich dann überhaupt noch ich?
Gibt es einen Kern in mir, der unveränderlich ist, oder ändert sich meine Identität mit meinen Lebensumständen?
Oder ist die Identität so wie ein Edelweiß, das je nach der Höhe, in dem es wächst, ganz anders ausschaut, aber immer ein Edelweiß ist?
Heute ist Karsamstag.
Gestern vor einigen Jahren ist in Judäa ein bekannter Prophet getötet worden, und heute Abend, mit Sonnenuntergang, beginnt der Tag, an dem er auferstanden ist.
Manche glauben das als reale Wahrheit, manche halten es für Spinnerei, manche sehen es als ein Symbol.
Trans Menschen gehören zu denen, die es verstehen.
Sie wissen, was es bedeutet, ein Leben zu Grabe zu tragen und mit dem alten Körper und einer gebrauchten Seele, die hinabgefahren ist in das Reich des Todes, ein neues Leben, eine Fahrt in den Himmel, zu beginnen.
Euch allen wünsch ich ein glückliches Osterfest.
Nicht zu hassen - um zu lieben bin ich da (Antigone)